Die Folgen der massenhaften Abtreibung ungeborener Kinder
Von Franz Salzmacher
(Mit Kürzungen übernommener Beitrag aus der katholischen
Zeitschrift „Der Fels“ 1/2000)
Eine Million Abtreibungen zählten die Vereinigten Staaten
von Amerika im Jahr 1999. In Rußland waren es schätzungsweise
drei Millionen, in Deutschland offiziell 135 000, wahrscheinlich
aber mindestens doppelt so viele. Eine lautlose Katastrophe
findet täglich statt; sie fordert mehr Opfer als die
Kriege dieser Welt. Unabhängig von politischen und moralischen
Erwägungen kann es nicht ausbleiben, daß diese
Katastrophe sich auch in der Wirtschaft niederschlägt.
Der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Geburtendefizit
in Industrieländern ist wissenschaftlich noch nicht einwandfrei
erwiesen, aber durchaus plausibel. Irland und Schweden, die
eine höhere Geburtenrate haben, zählen weniger Arbeitslose.
Auch der Sozialstaat mit seinen Umlagesystemen hat eine negative
Dynamik entwickelt. Die Verarmung der Familien beschleunigt
sich, und die Verschuldung der Sozialbudgets wird nicht substantiell
abgebaut. Der Rentenexperte und Sozialrichter Jürgen
Borchert drückt das so aus: „So bedingen sich der
finanzielle Super-GAU des Sozialstaats und der Bankrott der
Familie am Ende gegenseitig. Die simple Einsicht, daß
der Sozialstaat existentiell, auf Gedeih und Verderb auf die
Symbiose mit der Familie angewiesen ist, wird der Politik
und den Medien erst dann dämmern, wenn alles vorbei ist.“
Er führt aus, daß die Massenarbeitslosigkeit nicht
die Hauptursache für die Verarmung der Familien und für
die Gefährdung des Sozialstaats ist. Auch in Zeiten geringerer
Arbeitslosigkeit wuchs die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger.
Im Gesundheitssystem sieht es nicht besser aus. Die Krankheitskosten
steigen im Alter exponentiell. Schon heute (2000) verursachen
die Über-Sechzigjährigen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung
gut zwanzig Prozent ausmacht, fast die Hälfte aller Krankheitskosten.
Bei einer Verdoppelung des Altenanteils ergeben sich drastische
Konsequenzen, an denen die Politiker heute schon laborieren,
allerdings ohne die erste Ursache, die fehlenden Kinder, wirklich
zu erkennen oder zu nennen. Darauf hinzuweisen paßt
nicht in das Denken, ist politisch nicht korrekt.
Worauf es in Zukunft immer stärker ankommt, sind Innovations-,
Bildung- und Umstellungsfähigkeit – Eigenschaften,
die generell die Jugend auszeichnen. Deutschland wird aber
immer langsamer und innovationsschwächer. Die OECD (internationale
Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit)
weist dem früheren Wirtschaftsriesen bereits heute (2000)
einen Platz im hinteren Mittelfeld zu. Das Institut der Deutschen
Wirtschaft warnt bereits: Die Produktionsbedingungen am Standort
Deutschland werden künftig weniger durch einen Mangel
an Sachkapital, sondern mehr durch fehlendes Humankapital
gefährdet. Die Pflege von Kindern und ihre Erziehung
sind die wichtigste Leistung für Wirtschaft und Gesellschaft.
Gerade sie aber wird wie selbstverständlich hingenommen.
Das Kernproblem wird verdrängt. Sonst müßte
man ja mit der Bevölkerungsfrage auch die Frage der Abtreibung
und ihrer volkswirtschaftlichen Folgen aufwerfen. Das wäre
politisch noch unkorrekter; manche Politiker halten das für
politischen Selbstmord. Aber wenn das stimmt, dann ist diese
Gesellschaft genau auf dem Weg dorthin. Ein Beispiel für
dieses perverse Denken ist der Urteilsspruch des Amtsgerichts
Heidelberg, der es bei harten Geldstrafen untersagt, Abtreibung
eine Tötung zu nennen.
Immerhin haben seriöse Wissenschaftler erkannt, daß
die Vergreisung der Industrieländer das Problem des 21.
Jahrhunderts sein wird.
Aber das Bewußtsein der führenden Politiker ist
noch nicht so weit. Sie halten finanzielle Zuwendungen an
Familien für großzügige Hilfe der Allgemeinheit,
ohne sich darüber im Klaren zu sein, daß die Allgemeinheit
die Familien mit Kindern auszehrt. In Deutschland leben (i.
Jahr 2000) eine Million der 14 Millionen Kinder unter 15 Jahren
von der Sozialhilfe, eine halbe Million überlebt in schlechtesten
Wohnverhältnissen oder Obdachlosenunterkünften.
Kinderreichtum ruiniert, wie in sämtlichen Armutsberichten
zu lesen ist. Hinzu kommt: Die Jugendarbeitslosigkeit hat
sich vom Beginn der 90er Jahre bis zum Jahr 2000 verdoppelt.
Die Jugendkriminalität steigt erheblich schneller als
die Gesamtkriminalität; Gewalt in der Schule gehört
zum Alltag.
Die Politik redet viel von Familie, Kindern und Jugend. Bei
konsequenter Umsetzung des Kinderbetreuungsurteils aus Karlsruhe,
das ja nur einen Teil der Gerechtigkeitslücke zu den
Familien mit Kindern definiert, müßte der Staat
weit mehr als 30 Milliarden DM in das Humanvermögen dieser
Gesellschaft investieren.
Und mehr als das! Kinder brauchen auch Herz. Welcher Politiker
traut sich noch zu, von den drei großen Z (Zärtlichkeit,
Zuwendung, Zeit) zu sprechen, die nach Pestalozzi nötig
sind für eine gesunde Entwicklung der künftigen
Generationen?
Die Familien machen übrigens noch ganz andere Rechnungen
auf (Familienprotesttag im September 1999): 160 Milliarden
DM zahlen Eltern von Mehrkinderfamilien jährlich in die
gesetzlichen Alterssicherungssysteme von kinderlosen und Einkind-Familien
ein und sichern damit die Rente dieser Bürger. Weitere
40 Milliarden zahlen diese Familien über die Mehrwertsteuer
auf die Grundnahrungsmittel – eine Strafsteuer ist das
zu nennen! Sodann: Aufwand und Einkommensverzicht belaufen
sich in Deutschland für jedes Kind auf circa eine halbe
Million DM bis zum Alter von 18 Jahren. Es wird also staatlich
belohnt, folgern die rechnenden Familien, wenn man kinderlos
bleibe. Die Rechnungen ließen sich fortsetzen. Sie ergäben
in der Summe, daß dieses Land Familien mit Kindern nach
wie vor kraß benachteiligt.
Der Kinderarmut geht Elternarmut voraus. Wer Kindern helfen
will, der muß den Eltern Gerechtigkeit widerfahren lassen,
zunächst materiell. Der Ruf nach einem Erziehungseinkommen
(Erziehungs- oder Familiengehalt, die Bezeichnung spielt keine
Rolle) wird lauter. Und es ist zu begrüßen, daß
die Wissenschaft die Zusammenhänge zwischen Erziehung,
Familie und Kriminalität erörtert. Eltern brauchen
Zeit für die Kinder. Das Erwerbsleben muß sich
danach richten und familienfreundlicher werden. Und man muß
den Eltern auch mehr Möglichkeiten bieten, Erziehungskompetenz
zu erwerben.
Mit gutem Willen allein ist es nicht mehr getan. Man muß
zuhause gegen die Medien, insbesondere das Fernsehen, argumentieren
können. Es wird zu viel Schrott in den Köpfen der
Kinder abgeladen. Man muß sich und die Kinder vor der
geistigen Verelendung durch falsche Vorbilder und Lebensstile,
wie sie Seifenopern und Werbung vorgaukeln, schützen.
Die Politik wird dem Zusammenleben der Generationen mehr Aufmerksamkeit
widmen müssen. Sonst leben sich nicht nur Werte-Welten
auseinander. Das Reden von Familie und Zukunft war nie so
billig wie heute, die Folgen des Nicht-Handelns aber nie so
teuer.
Wer Familien mit Kindern, vor allen solche mit niederem Einkommen,
wirklich fördern will, der sollte das direkt tun –
mit einem Erziehungseinkommen oder höherem Kindergeld,
mit besseren Schulen, Erlaß der Kindergartengebühren.
Vorschläge liegen zuhauf auf dem Tisch. Die Politik bräuchte
nur ehrlich zu sein und Prioritäten zu setzen.
Wenn man der Familie Gerechtigkeit widerfahren und sie würdig
leben ließe, hätte das mit Sicherheit auch eine
andere Wirkung: Die Zahlen der Abtreibung würden zurückgehen.
Es gibt die sozialen Notlagen. Die anderen Nöte, die
psychische, pädagogische und moralische Not, sie würden
gelindert. Denn die Markt-Gesellschaft taxiert Lebensverhältnisse
nach dem Preis. Nun bekommen Ehepaare Kinder nicht des Geldes
wegen. Es gibt auch die Liebe. Dennoch bleibt die Forderung:
Auch die Familie muß würdig leben können.
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit – und des Überlebens
dieser Gesellschaft.
Anmerkung
Unsere Mitglieder und Freunde werden diesen recht eindrucksvollen
Aufsatz an der einen oder anderen Stelle gedanklich ergänzen
oder etwas zurechtrücken. Davon soll hier aber nicht
die Rede sein. Denn eine unheimliche Bedrückung beginnt
alle kleineren Vorbehalte zu überlagern, sobald man den
Text am heutigen Stand der Dinge mißt. Die Politik wird
dem Ernst der Lage weniger denn je gerecht; und das Ansehen
der Familie ist seither drastisch gesunken. Der Verfasser
des Beitrags war zweifellos noch davon überzeugt, daß
die herkömmliche Familienverfassung als uralte kulturelle
Institution im politischen Handeln unantastbar sei. Doch wie
ist der Begriff der Familie in diesen acht Jahren seit dem
Erscheinen des Artikels noch weiter zerredet und ausgehöhlt
worden!
Stellvertretend für eine Phalanx auflösender Kräfte
steht der Bundespräsident. Er will alle beliebigen Formen
des Zusammenlebens der Geschlechter gelten lassen, also eheähnliche
Verbindungen mit eigenen, fremden und Kindern gemischter ethnischer
Herkunft in der (wörtlich:) „Patchwork-Familie“.
Mit seiner Relativierung hat er als höchster Repräsentant
des Staates die Ehe als Kern der Familie preisgegeben, und
damit zugleich den Überlieferungsstrang der Kultur und
ein Fundament des Staates. Demgegenüber berührt
sein gleichzeitig mitgeteiltes persönliches Festhalten
an der traditionellen Ehe und Familie die Öffentlichkeit
so viel oder so wenig wie das jedes anderen Bürgers.
In einem ermüdenden Streit um Betreuungsgeld, Krippenausbau,
Kindergeld usw. mogeln sich die Politiker am Wesen unserer
Existenzkrise vorbei. Die seit Jahrzehnten laufende Aushöhlung
der Familie setzt sich in der Gender-Propaganda („Frau
ist Mann, und ihre Erfüllung ist der Job“) fort
und wird von regierungsamtlicher Pornographie in Kindergarten
und Schule begleitet.
Unter diesen Umständen war es folgerichtig, dem SDV
keine Antwort zu erteilen, als er 2006 den zuständigen
Bundesministerien und allen Bundestagsabgeordneten einen Vorschlag
für die mittelfristige Einführung eines umlagefinanzierten
Erziehungsgeldes vorlegte. Dabei geht dieser Vorschlag auf
eine Studie zurück, die im Auftrag des Bundes Katholischer
Unternehmer von Prof. W. Schreiber 1955 als „Drei-Generationen-Vertrag“
entwickelt worden war. Er sollte die Kinderlosen sozialgerecht
zur Stützung der Familien heranziehen und dadurch zugleich
den Willen zum Kind stärken, also auch der Abtreibungspraxis
entgegenwirken. Er sollte die Familie aufwerten und den Staat
von ihr fernhalten. Am Schweigen der CDU-Familienministerin
und an ihrem familienzerstörenden Kampf um Kinderkrippen
im Interesse der berufstätigen Frau ist abzulesen, was
in diesen fünfzig Jahren aus der CDU geworden ist. Sie
ist offensichtlich erfolgreich durch die „Frankfurter
Schule“ gegangen, läßt sich aber immer noch
als „christlich“ titulieren.
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